Die Elbflut by Birgit Jasmund
Autor:Birgit Jasmund
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau digital
veröffentlicht: 2023-02-27T06:48:11.773000+00:00
Kapitel XXX
In Rathen traf die Kommission auf eine weinende Frau. Vier Kinder, vom Windelbalg bis zum vielleicht Zwölfjährigen, standen mit rotzverschmierten Gesichtern hinter ihr. Der älteste Sohn hielt das Jüngste auf dem Arm. Das nuckelte hingebungsvoll an seinem Daumen. Die weinende Frau erwartete sichtbar das fünfte Kind. Alle trugen einfache, keineswegs neue Kleidung; Lumpen waren es jedoch nicht. Jacob hielt sie für eine rechtschaffene, hart arbeitende Familie, die das Notwendige zum Leben verdiente.
»Was ist mit ihr, gute Frau?«, fragte der Freiherr freundlich und hinderte sie daran, vor ihm zu knicksen.
»Die Flut hat meinen Mann geholt. Den Vater meiner Kinder. Er wollte den Kahn retten und ist dabei ertrunken.«
»Gute Frau, das tut mir leid.« Der Freiherr fuhr sich mit einem Finger unter sein sorgfältig gebundenes Halstuch, als wäre es ihm mit einem Mal zu eng geworden. »Ich dachte, es wäre niemand ertrunken?«, fragte er leise seinen Sekretär.
»So wurde es gesagt.« Der farblose Mensch zuckte mit den Schultern.
»War es ein Fährkahn, den dein Mann retten wollte?«, fragte Jacob die Frau.
Sie nickte.
»Wann ist das passiert?«
»In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar. Die Elbe ist immer höher gestiegen, da wollte mein Leopold den Kahn retten, damit der nicht fortgespült wird. Er ist gegangen, und ich habe die Nacht über mit den Kindern im Haus gewartet. Er ist nicht zurückgekommen.« Sie schniefte.
»Was ist dann passiert?«, fragte Jacob. Er konnte es sich denken, aber er wollte, dass die anderen es aus dem Mund der Frau hörten.
»Unser Haus stand im Wasser. Es reichte bis ins Obergeschoss. Ich habe mit den Kindern auf dem Dachboden ausgeharrt. Wir haben die ganze Zeit gebetet und geweint. Das Wasser gurgelte. Es hat sich angehört, als würde das Haus jeden Augenblick fortgespült. Und mein Leopold war nicht da.« Ihre Stimme erstickte unter Tränen.
Der Offizier reichte ihr mit schneidiger Geste ein blütenweiÃes Taschentuch. Sie nahm es und wusste einen Moment nichts damit anzufangen, wischte sich dann die Tränen aus den Augen. Die Nase zog sie erst hoch und wischte sie danach am Ãrmel ab.
»Steht dein Haus noch?«, fragte Jacob weiter.
Wieder nickte sie. »Es ist das dahinten.« Sie deutete auf ein ehemals solides Haus, bei dem die Feuchtigkeit beinahe bis unters Dach gekrochen war. Es würde Wochen dauern, bis die Mauern einigermaÃen ausgetrocknet waren. Fenster und Türen mussten erneuert werden, die Dielenböden sicher auch, ebenso die Ãfen und das Mobiliar in den unteren Räumen.
»Berichte von deinem Mann«, verlangte der Freiherr. Er hatte aufgehört, an seinem Halstuch zu zupfen.
»Mein Leopold ist nicht zurückgekommen. Wir waren im Haus gefangen, bis das Wasser am vierten Tag zurückgegangen ist, und wir wieder auf die StraÃe konnten. Meinen Mann habe ich nicht gefunden. Unseren Kahn auch nicht. Andere haben gesehen, wie der Kahn ihn mitgerissen hat. Sie haben ihm eine lange Stange hingehalten und ein Seil. Er hat es nicht greifen können.« Wieder schniefte sie und wischte die Nase am Ãrmel ab.
»Schreib das genau auf«, raunte Jacob dem Steuerbeamten zu.
Der hielt zwar eine Feder in der Hand, hatte in den letzten Minuten aber den Worten der Witwe gelauscht.
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